Frauengespräche

Ein Friseur aus Leidenschaft

Kurzgeschichte

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So etwas ist wohl jedem schon einmal passiert: Nach gefühlten einhundert Jahren treffe ich eine alte Schulfreundin wieder und wundere mich über ihr Äußeres. „Deine Haare waren doch damals ganz glatt und sie waren auch nicht braun!“ „Hmh“, entgegnet meine ehemalige Mitschülerin und dann lacht sie. Richtig gut sieht sie aus und fast hätte ich sie nicht wiedererkannt.

In einem kleinen Café an der Hamburger Außenalster trinken wir Latte Macchiato als sie zu erzählen beginnt: „Du hast schon Recht, früher war ich blond und meine Haare waren nicht glatt sondern platt. Während unserer Schulzeit hätte ich nicht im Traum daran gedacht, daran etwas zu ändern, doch als ich an die Uni ging, lernte ich Marco kennen. Sein Vater – ein Italiener aus Bologna – hatte einen Friseursalon in der Stadt. Da kam es, wie es kommen musste: Irgendwann nahm Marco mich ins Schlepptau und führte mich zu seinem Padre, dem man die Friseurkunst wohl in die Wiege gelegt hatte.

Der Salon war geradezu ein Tempel und Giacomo – so hieß Marcos Vater – wirkte etwas verloren in all dem opulenten Ambiente. Was dann geschah, werde ich niemals vergessen. Ein Küsschen links und eines rechts und schon ging’s los. „Cosa facciamo coi capelli?“ wollte der Maestro wissen und sogleich ahnte ich, dass die Frage nach dem ‚Was-sollen-wir-tun?‘ nur eine Floskel war. Wie sonst ließe sich erklären, dass Giacomo plötzlich eine Leidenschaft entwickelte, die mir den Atem stocken ließ?

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass ich für ihn ein kleines Kunstwerk war. So wie ein Bildhauer den rohen Stein behaut und ein Maler die weiße Leinwand zum Leben erweckt, geradeso schuf er aus mir etwas Neues, etwas Einzigartiges.“

Der Kellner bringt Acqua Gazzata. Ich lehre das Glas mit einem Schluck.

„Wie ist es dir ergangen in all den Jahren?“ fragt meine alte Freundin neugierig. Ich erzähle vom Studium, von der Geburt unseres Kindes und von unserem letzten Segeltörn. Fast beiläufig schaue ich sie an und sage: „Du siehst richtig gut aus!“

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