Frauengespräche

Eine unglaubliche Geschichte

Kurzgeschichte

Teilen Teilen Teilen Teilen Teilen

Meine Urlaubsreise an die Nordsee war nur ein Kurztrip. Eine Woche auf Baltrum bei schönstem Sonnenschein. Mein Mann war geschäftlich in Italien unterwegs und so nutzte ich die Zeit, ein wenig Erholung vom Alltag zu genießen. Lange Spaziergänge am Strand, gutes Essen und das komplette Wellness-Programm. Ja, so ließ es sich leben!

Am Nachmittag es dritten Tages saß ich im Teehaus und aß Kuchen. Ein Mann, alleine zwei Tische weiter sitzend, war mir bereits beim Betreten des Lokals aufgefallen. Nicht, dass er besonders hübsch war, registrierte ich, nein, seine Erscheinung und die Art, wie er dort saß, hatten meine Aufmerksamkeit erregt.

Sein Bart war stachelig, sein blondes Haar zu einem Zopf gebunden. Er trug einen weißen langärmeligen Pullover, der eigentlich viel zu warm war für diesen sonnigen Tag. Auf seinem Tisch lagen allerlei schwarzfarbene Apparaturen, die wie Funkgeräte aussahen. An seinem Hals baumelte eine große Uhr, oder war es ein Kompass?

Eine ganze Weile beobachtete ich den Gast aus dem Augenwinkel, sorgsam darauf achtend, dass er mein Interesse nicht bemerkte. Als der Ober ihm einen Kaffee brachte, verloren beide ein paar Worte, denen ich keine Bedeutung beimaß. Fünf Minuten später legte mir der Bedienstete fast beiläufig eines der schwarzen Geräte auf den Tisch und zwinkerte. Augenblicklich schaute ich zu dem Fremden hinüber. „Wissen Sie, was das ist?“ fragte er leise, so dass ich es kaum vernahm. „Ich habe keine Ahnung“, erwiderte ich ebenso leise und nahm das Gerät in die Hand, um zumindest mein Interesse zu bekunden. „Drücken Sie mal den kleinen Knopf oben links!“ rief der Fremde schon etwas lauter. Doch ich, die ich von Technik so wenig verstehe wie von Algebra und Pythagoras, versagte auf ganzer Linie. „Oben links“, wiederholte er – und dann noch einmal „oben links“. Ich musste schmunzeln und er tat es auch.

Wo oben links nun wirklich war, erfuhr ich, als sich der Kommandeur zu mir an den Tisch begeben hatte und mir erklärte, dass ich das Gerät falschherum gehalten hatte. „Das ist ein Sonar“, erläuterte er, „damit lassen sich Fischschwärme aber auch größere einzelne Fische orten“. „Sind Sie ein Forscher?“ wollte ich wissen. „Ja“, antwortete der freundliche Herr und sogleich lud er mich zu einer Erkundungstour ein, die gleich am nächsten Morgen stattfinden sollte.

Am Abend lag ich auf meinem Bett und dachte über dieses und jenes nach. Natürlich auch über mein Erlebnis im Teehaus. Daniel, so hieß der Forscher, war wirklich ein interessanter Mann. Sich tagein, tagaus damit zu beschäftigen, Tiere zu beobachten, wirkte auf mich derart faszinierend, dass ich mir in aufregenden Gedanken so manche Episode ausmale, die er wohl bereits erlebt haben mochte.

Mein Mann Bert hingegen war ein vollends anderer Typ Mensch. Als Geschäftsführer einer Brauerei drehte sich bei ihm alles um Produktion, neue Märkte und vor allem ums Geld. Dass unsere Beziehung darunter litt, damit hatten wir uns längst abgefunden, denn all der Stress, dem Bert ausgesetzt war, ließ mich nicht im Traume daran denken, dass sich an unserer Situation – vor dem Rentenalter – etwas ändern würde. Diese Hoffnung hatte ich längst aufgegeben. Doch es gab auch eine positive Seite in unserer Ehe: Wir hatten Geld im Überfluss, und ich selbst lebte deshalb völlig sorgenfrei. Um ein Gegengewicht zur Monotonie innerhalb unseres Zusammenlebens zu schaffen, hatte ich schon vor vielen Jahren damit begonnen, mir eine Art eigenes Leben aufzubauen. Mein Freundes- und Bekanntenkreis war recht groß und so fand ich stets eine willkommene Ablenkung, wenn es darum ging, den wahren Wert unserer Beziehung mal wieder auf den Prüfstand zu stellen.

Der Morgen begann mit einem Paukenschlag: Ich hatte verschlafen! Bereits zehn Minuten war ich zu spät dran und deshalb verzichtete ich auf die Morgentoilette, sprang in meine Jeans, streifte mir ein Sweatshirt über und rannte so schnell ich konnte hinunter zu dem kleinen Hafen, dorthin, wo ich verabredet war. Und während ich so lief, wurde mir mit jedem Schritt durch dick und dünn bewusst und bewusster, dass ich mich eine Ewigkeit lang nicht mehr so sehr auf etwas gefreut hatte. Daniel wartete. Und als er mich sah, lachte er.

Das kleine weiße Boot machte einem Forschungsschiff alle Ehre, denn wenn es an einem fehlte, dann war es diese gewisse Gemütlichkeit, die den meisten dieser Gefährte innewohnt und die sie so liebenswert erscheinen lässt. Stattdessen befanden sich allerorten irgendwelche Gerätschaften, die festinstalliert waren oder irgendwo herumlagen. Inmitten all diesem technischen Wirrwarr wirkte Daniel wie ein Kontrapunkt, trug er doch wieder seinen weißen Pullover, seinen Stoppelbart und sein unvergleichbares Karma. Los gings. Unsere Fahrt führte hinaus aufs offene Meer. Daniel war mit seinen Geräten beschäftigt und verlor kaum ein Wort. Plötzlich tuckerte etwas. „Kommen Sie!“ rief er, „schauen Sie mal ins Wasser!“ Direkt unter uns erkannte ich mehr als ein Dutzend Robben, die dem Boot folgten. „Elf dieser Tiere sind registriert“, erklärte der Forscher, „die anderen stammen nicht aus dieser Region. Mein Institut ist vor allem daran interessiert, herauszufinden, warum sich fremde Robben der heimischen Population anschließen. Aus diesem Grunde werden die Tiere mit einem Chip versehen, so dass sie immer wiedererkannt werden können.“

Weit und breit kein Festland in Sicht, keine Insel. Das Meer war ruhig und unsere Gedanken ebenso. Wir schwiegen mit Worten, die uns fremd waren und kamen uns näher. Einmal streifte seine Hand wie zufällig meinen Arm. Und wieder tuckerte es. „Ich liebe das Leben hier draußen“, sagte Daniel, während er Notizen in ein graues Buch schrieb. „Und Sie genießen die Einsamkeit“, wandte ich ein. Kopfschüttelnd entgegnete er: „Nein, nein, so einsam ist es hier nicht. Und heute doch wohl schon gar nicht.“

Aus Plastikbechern mit Henkel tranken wir Kaffee. Die Sonne stand ein Stück weit über dem Horizont, als wir die Rückreise antraten. Kein Tuckern mehr, kein Piepsen und kein graues Buch. Nur wir beide, das Meer und die Einsamkeit. Und als wäre es eine pure Gewohnheit, ja eine Selbstverständlichkeit, setzte ich mich zu ihm und schmiegte mich in seinen weißen Pullover. Er legte seinen Arm um die, die ihn mochte und um die, der er zuhörte.

An diesem sonnigen Morgen erzählte ich einem Fremden meine Lebensgeschichte. Eine Geschichte, die ich daselbst erlebt hatte, eine Geschichte, die ich in dieser Offenheit nicht einmal meiner besten Freundin verraten hätte. Und Daniel hörte zu. Ihm ging es nicht ums Geld. Er kämpfte für die Robben, für die Reinhaltung des Meeres und vielleicht sogar für die Gerechtigkeit. Nach seinem Studium in Kopenhagen hatte es ihn nach Deutschland verschlagen. Und dort war er gestrandet. Die erste Liebe, ein Kind und dann die Trennung, die Einsamkeit, der Rückblick. „So richtig verliebt habe ich mich erst ein einziges Mal“, sagte er schließlich. „Und in wen?“ fragte ich neugierig. „In ein kleines süßes Robbenbaby, das mir auf einer Sandbank unweit der Insel sein behaartes Maul entgegenstreckte.“ Ja, so war er. Und so war ich und wir beide zugleich.

Am Hafen angelangt, verabredeten wir uns für den Abend. „Hast du sie jemals wiedergesehen?“ rief ich ihm noch nach. „“Wen meinst du?“ klang es fast lustig durch die Lüfte. „Na, die kleine Robbe!“ Kopfschüttelnd gingen wir zufrieden auseinander.

Fisch in allen Facetten ist naturgemäß das Hauptgericht auf der Insel. Eine wahrhaft königlich anmutende Vielfalt aller Köstlichkeiten des Meeres stand zwischen uns, als wir mit weißem Wein auf den Abend anstießen. Auf den Abend, der ein wunderschöner werden sollte, und der fast kein Ende fand. In dieser Nacht, welche ich alleine in meinem Bett verbrachte, lag ich stundenlang wach und grübelte. Ohne große Konsequenzen könnte ich alles über Bord werfen und noch einmal neu beginnen, dachte ich. Mein Mann würde mich auszahlen, kein Kind würde nach der Mutter schreien. Dann spann ich weiter. Bert könnte mich vermissen. Mich, seinen Ruhepol. Er könnte an der Situation verzweifeln. „Du kannst nicht einfach abhauen!“ mahnte die Vernunft. „Doch, doch!“ entgegnete das Herz: „Strebe an, was dir wirklich wichtig ist!“ Dann schlief ich ein.

An einem Freitag reiste ich ab und heulte. Daniel war mitgekommen zum Hafen. Eine innige Umarmung. Ein Kuss auf die Wange. Ein Blick, der nicht enden wollte.

In Hamburg regnete es. Das Wiedersehen mit meinem Mann fiel freundlich aus. Am Abend saßen wir gemeinsam auf der Terrasse. Während er an seinem Laptop arbeitete, las ich ein Buch. Wieder und wieder schaute ich auf und beobachtete ihn. Gut, er war nicht mehr der Jüngste, aber für sein Alter sah er noch recht passabel aus. „Magst du mir noch ein Glas Wein holen?“ fragte ich ihn, doch er war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er mein Ansinnen nicht vernahm. Also stand ich selbst auf und begab mich in die Küche. „Wohin gehst du?“ fragte er mich, als er bemerkte, dass ich mich erhoben hatte. „Ich gehe in die Küche, um etwas Wein zu holen“, antwortete ich. „Warum hast du denn nichts gesagt?“ wollte er wissen, aber ich vermied aus Rücksicht eine Konfrontation, da ich wusste, dass er noch in derselben Nacht auf einen Kongress nach Berlin fahren musste.

Am darauffolgenden Tag besuchte ich Gela, eine Freundin, die unweit unseres Hauses ein Kosmetikstudio betrieb. Während sie mein Gesicht massierte, erzählte ich ihr beiläufig – zumindest sollte es so erscheinen – von meiner Begegnung mit Daniel, ohne jedoch direkt auf ihn einzugehen. „Weißt du eigentlich, dass es Forscher gibt, die sich damit befassen, herauszufinden, wie sich die Robben in der Nordsee auf ihren Streifzügen verhalten?“ „Ich habe mal etwas darüber gelesen“, entgegnete sie, „das sind ziemlich robuste Kerle, die bei Wind und Wetter unterwegs sind.“ „Naja“, wandte ich ein, „ein Boot und einen warmen Schlafplatz haben sie schon.“ „Auf jeden Fall sind sie Idealisten“, erwiderte Gela und legte mir zwei Pads auf die Augen, so dass sich alles um mich herum verdunkelte. Dann fuhr sie fort: „Sie kämpfen für die gute Sache, ohne dass der Profit im Vordergrund steht.“ Wie Recht sie hatte, träumte ich, obwohl ich wach war. Und schon erschien mir Daniel mit seinem Stoppelbart und seinem weißen Pullover wie ein guter Geist, der aus dem Nichts in meinen Gedanken auftauchte.

Am Abend machte ich es mir zu Hause gemütlich. Bert würde erst in zwei Tagen zurückkehren und so hatte ich alle Zeit der Welt, über mein Leben nachzudenken. Mit dem Weinglas in der Hand durchquerte ich jedes einzelne Zimmer unseres Hauses auf der Suche nach Erinnerungen. Und hier und da fand ich sie auch. Vor allem Fotos waren es, die mich in der Vergangenheit schwelgen ließen. Fotos, die Bert oder uns beide, gemeinsam mit Geschäftsfreunden abbildeten. Nur ein einziges Bild zeigte uns ganz privat. Es war unsere Hochzeitsfotografie. Überhaupt hing mein Herz nur wenig an all dem Interieur, war es doch einzig von einem Designer zusammengestellt worden. Kein Trödel vom Flohmarkt, den man gemeinsam ersteigert hatte, kaum eine ganz persönliche Note, die dem Haus etwas Unverwechselbares verlieh. Wieder auf der Terrasse angelangt, schenkte ich noch einmal nach, und dann noch einmal, solange, bis ich einen kleinen Rausch verspürte. In der Tat, resümierte ich, war mein Leben völlig fremdbestimmt, ohne dass ich einen Einfluss auf dessen Verlauf nehmen konnte. Ich war ein kleines Anhängsel, das sich in unserer Gesellschaft breitgemacht hatte. Ohne Hilfe wäre ich längst der natürlichen Selektion zum Opfer gefallen, würde Daniel sagen, wenn er es sagen könnte. Noch einmal schenkte ich nach und erinnerte mich der Worte meiner Kosmetikerin: „Sie sind Idealisten“, hatte sie gesagt als wir über die Forscher sprachen. Fürwahr, eine Idealistin war ich ganz sicher nicht.

Nun war eine Weile vergangen, seit ich wieder zu Hause angekommen war. Bert kehrte in diesen Tagen recht pünktlich aus der Brauerei zurück, so dass wir einen Großteil der Abende gemeinsam verbrachten. Wie gewöhnlich saß mein Mann vor seinem Laptop. Es geschah an einem Donnerstag. Die Dunkelheit schlich gerade übers Land. Das Telefon läutete. Am anderen Ende der Leitung sprach ein Mitarbeiter der Brauerei aufgeregt: „Die Container sind in Boston noch immer nicht eingetroffen!“ Was dies zu bedeuten hatte, erkannte ich, als Bert dem Anrufer ins Wort fiel: „Sie hatten mir doch versichert, dass sie bereits vorgestern dort ankommen.“ Dann etwas lauter: „Die Promotion startet übermorgen.“ Schließlich schrie er außer sich vor Wut: „Das ist nicht mehr zu schaffen! Das Geschäft ist geplatzt! Treten Sie mir niemals wieder unter die Augen!“ Dann schlug er den Hörer so wirsch in die Gabel, dass es knallte. „Amerika, Amerika, du schöner Traum“, sprach er halblaut vor sich hin und stand auf. „Amerika, Amerika, das wärs gewesen“, sprach er lauter, ja fast klang es wie ein Gesang. „Amerika, Amerika, der Köhler hats vermasselt!“ sang er ebenso laut, ohne jedoch wieder in Rage zu verfallen. Seine Frau würdigte er in diesen Momenten der Aufruhr keines Blickes. Kurz darauf rief er einen Kollegen aus der Geschäftsführung an und berichtete ihm über das Vorkommnis: „Die Container sind immer noch nicht eingetroffen. Informieren Sie Boston und stoppen Sie alles!“ Einen Augenblick später kramte er in seinem Sekretär nach den Zigarren und ging hinaus auf die Terrasse. Ich folgte ihm. „Das ist alles sehr unerfreulich“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Unerfreulich nennst du das?“ harschte er mich an und fuhr dann fort: „Das Amerikageschäft ist mein Baby. Der europäische Markt ist seit Jahren rückläufig, weil die Leute lieber Alcopops trinken. Amerika, das wärs gewesen!“ Ich ging hinunter in den Garten, setzte mich auf eine Bank und schaute in den Himmel. Eine ganze Weile beobachtete ich meinen Mann, der auf der Terrasse auf und ab ging. „Welche Rolle spiele ich eigentlich in deinem Leben?“ rief ich hinauf. „Im Moment keine bedeutsame!“ rief er zurück. „Aber ich trage doch alles mit“, erwiderte ich. „Dann hätten wir wohl besser dich mit den Containern nach Amerika schicken sollen“, entgegnete er sarkastisch, wie es mitunter seine Art war.“ Du wirst unverschämt!“ entfuhr es mir, doch wenn ich ehrlich bin, war meine Empörung nichts anderes als eine Floskel, denn diese Auseinandersetzung war nicht die erste, die in all den Jahren des Zusammenlebens so brüsk endete. Trauer stieg in mir auf. Oder war es die pure Resignation?

Plötzlich stand er vor mir. Er war durch den Garten aufs Grundstück gelangt, weil niemand das Läuten an der Türe vernommen hatte. Augenblicklich sprang ich auf und stürzte in seine Arme! „Was will dieser Mann hier?“ empörte sich Bert, der ihn hatte kommen sehen. „Der Mann heißt Daniel“, versuchte ich die Situation zu entschärfen, doch gleichsam verspürte ich eine unbändige Kraft in mir aufsteigen, die mich geradezu beflügelte. „Daniel ist die Liebe meines Lebens!“ rief ich so laut ich nur konnte und verließ den Garten, ebenso wie jener, der ihn betreten hatte.

Zwei Jahre sind nun vergangen. Zwei Jahre, die ich niemals bereut habe. Ich führe mit Daniel ein glückliches Leben. Die Trennung und mit ihr die Scheidung von meinem Mann sind reibungslos verlaufen. Und Bert – das halte ich ihm zugute – überweist mir jeden Monat einen stattlichen Betrag auf mein Konto.

Fast hätte ichs vergessen: Mittlerweile hat Daniel eine neue Liebe – Lydia hat eine Traumfigur und ist drei Monate alt. Und nun raten Sie mal, wer das Robbenbaby gechipt hat?

Lesen Sie auch unsere anderen Kurzgeschichten.

Antwort hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.