Frauengespräche

Marvin

Kurzgeschichte

Teilen Teilen Teilen Teilen Teilen

Ich war 25 als ich Marvin begegnete. Beim Shoppen in unserer Stadt lief er mir zufällig über den Weg. Er lud mich auf einen Kaffee ein, und obwohl ich sonst eher ein misstrauischer Mensch bin, willigte ich ein. Fortan verabredeten wir uns regelmäßig und ohne es so richtig zu bemerken, begann ich, mich in ihn zu verlieben. Er lebte alleine. Seine Eltern waren früh verstorben, der Vater war ein Engländer, den es über die Army nach Deutschland verschlagen hatte. Über seine Mutter redete er nur sehr selten, nur so viel wusste ich: Sie war eine Deutsche.

Die Wochen zogen ins Land und Tag für Tag kamen wir uns näher. Mir gefiel diese sanfte Art der Annäherung, hatte ich doch bereits schlechte Erfahrungen mit anderen, weniger zurückhaltenden Männern gesammelt. Nach gut einem Vierteljahr liebten wir uns das erste Mal. Es war wunderschön. Marvin stellte sich an, mein Traummann zu werden. Er war so einfühlsam, so zärtlich, wie ich es niemals zuvor erlebt hatte. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits um mich geschehen, und ich hätte alles für ihn getan. Doch wie vieles im Leben hatte auch unsere Beziehung eine kleine Schattenseite. Als Mädchen aus gutem Hause konnte ich mich nur schwerlich damit abfinden, dass mein neuer Freund ein einfacher Arbeiter war. Er verdingte sich mal hier, mal dort, wenngleich ich davon überzeugt war, dass er etwas Besseres verdient hatte. Schließlich gelang es mir, ihm einen Job in einer Tischlerei zu vermitteln. Er zeigte sich überglücklich.

Meinen Eltern hatte ich meine neue Beziehung vorerst verschwiegen, denn sowohl mein Vater als auch meine Mutter legen großen Wert auf eine gewisse Etikette. Als die neue Anstellung unter Dach und Fach war, beschloss ich, ihn vorzustellen. Um des lieben Friedens willen flunkerte ich ein wenig und erhob den Tischler zum Restaurator. Der Kennenlernabend verlief ohne Komplikationen, obschon mein Vater, ein Architekt, gewisse Vorbehalte zeigte: „Warum ist er tätowiert?“ wollte er wissen, „so etwas schickt sich nicht!“ Meine Mutter hingegen hatte ihn gleich ins Herz geschlossen, war er doch ein Mann, der so richtig anpacken konnte. Überdies war Marvin von athletischer Statur, was ihr sichtlich imponierte.

Wieder vergingen einige Wochen. Marvin verließ seine kleine Wohnung und zog zu mir. Lisa, meine beste Freundin, die ihn bereits kannte, hatte mir dazu geraten. „Vielleicht wird ja durch euer Zusammenleben noch ein richtig erfolgreicher Typ aus ihm“, sagte die, der ich meine kleinen Zweifel immer wieder vor Augen geführt hatte.

Kurz vor Weihnachten kehrte Marvin freudestrahlend heim: „Sie haben mich befördert!“ verkündete er stolz, „fortan habe ich vier Leute unter mir. Ist das nicht ein wundervolles Geschenk zur Weihnacht?“ Fürwahr, das war es! Am Heiligen Abend beschenkte er mich mit einer kleinen, handgeschnitzten Truhe, – ich hätte platzen können vor Glück!

Wieder verging einige Zeit, und wieder spielte uns das Glück in die Karten. Mein Vater hatte den Zuschlag für ein städtisches Großprojekt erhalten. Heimlich hatte er Erkundungen über die Tischlerei eingeholt, in der Marvin arbeitete, zumindest hatte er mir gegenüber kein Sterbenswörtchen darüber verloren. Am Tag der Entscheidung rief er mich an: „Marvin wird die Tischlerarbeiten leiten“, verkündete er, nicht ohne sein Beziehungsnetzwerk zu erwähnen, ohne das wohl alles anders gekommen wäre.

Es folgten Monate, wie ich sie niemals zuvor erlebt hatte. Das pure Glück lag zu meinen Füßen, und ich konnte all das, was mir widerfahren war, nicht fassen. Gemeinsam verlebten wir einen wundervollen Urlaub auf Sardinien und schmiedeten Pläne für die Zukunft. Einmal, als ich ihn danach fragte, was für ihn das größte Glück sei, antwortete er: „Ein Kind von dir zu bekommen“.
An einem Sonntagabend kam Marvin nicht nach Hause. Ich dachte an nichts Schlimmes, rief ihn an, doch nur die Mailbox war eingeschaltet. Ich fragte bei einigen Freunden nach, doch sie konnten mir nicht weiterhelfen. Als er auch zur Nacht nicht heimkehrte, erkundigte ich mich bei der Polizei. Dort teilte man mir mit, dass es für eine Vermisstenanzeige noch zu früh sei und ich noch abwarten sollte. Während der Nacht lag ich wach in meinem Bett. Ein Gedanke jagte den nächsten. Ein Unfall?

Am nächsten Morgen erkundigte ich mich im Krankenhaus nach Marvin Parker, – ohne Erfolg. Auch seiner Arbeit war er ferngeblieben. Einen Tag später meldete ich ihn bei der Polizei als vermisst. Vorrübergehend zog ich zu Lisa, die mich auf andere Gedanken bringen sollte. Nach einer Woche schlief ich endlich wieder. In dieser ersten Nacht träumte ich, dass Marvin von Terroristen entführt worden war, die ihm nach dem Leben trachteten. Drei Tage darauf sah ich ihn irgendwo in der Wüste am Galgen hängen.

Ganz allmählich gewann das Alltagsleben wieder an Dominanz. Ich zog wieder in meine Wohnung ein. Marvins Sachen jedoch rührte ich nicht an. Selbst das verschwitzte T-Shirt auf dem Stuhl in unserem Schlafzimmer beließ ich an seinem Ort. Immer und immer wieder versuchte ich, ihn telefonisch zu erreichen, aber bis auf die Stimme aus seiner Mailbox vernahm ich kein Lebenszeichen von ihm. Nach drei Monaten war auch dieser Hoffnungsschimmer verflogen, als sich ein Fremder am Handy meldete, der Marvin nicht kannte. Die Rufnummer war neu vergeben worden.

Irgendwann begann ich, mich damit abzufinden, dass Marvin nicht mehr zu mir zurückkehren würde. Doch niemals in all dieser Zeit der Ungewissheit dachte ich auch nur einen einzigen Augenblick daran, ihm etwas vorzuwerfen. Zu sehr hatte unser gemeinsames Leben mit all seiner Nähe, der Zuversicht und der Liebe unsere Beziehung geprägt. „Es ist vorbei!“ sagte die Vernunft, doch die Hoffnung konterte: „er wird schon zurückkehren!“

Am Morgen des 12. März 2010 fuhr ich mit meinem Auto ins Büro. Marvin hörte stets den Sender der britischen Army und im Gedenken an ihn hatte ich das Radio nicht mehr angerührt. Es lief Musik. Dann kurze Stille. Dann die News um neun Uhr. „Unemployment rate is dropping – UN-Secretary Ban Ki-moon in Egypt – trouble in America.” Fast hörte ich nicht mehr zu, als ich zuhören musste: “Lance-corporal Marvin Parker died in a suicide-attack in Afganistan.“ Der Boden unter meinen Füßen riss sich ins Unglaubliche! Das Leben ist vorbei, hier und jetzt!

Erst nach ein paar Tagen war ich imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Marvin war ein Soldat der britischen Army gewesen und das hatte er mir in all der gemeinsamen Zeit verschwiegen. Warum? Und Marvin war gefallen, weil irgendein Fanatiker ihn mit in den Tod gerissen hatte. Warum?

Martin ist tot und alles ist vorbei. Ich tue mich schwer damit, ein neues Leben zu beginnen. Das T-Shirt habe ich gewaschen und in den Schrank gehängt. Dorthin, wo alle seine Sachen nach wie vor liegen. Und irgendwo dazwischen, darüber oder darunter ist auch er: Der Mann, den ich so sehr liebte.

Lesen Sie auch unsere anderen Kurzgeschichten!

Antwort hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.