Frauengespräche

Schutzengel und Spekulationen

Vom ganz normalen Leben

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Ich hätte diesen Vorfall längst vergessen –, ohnehin weiß ich nicht mehr genau, wann noch wo es geschah: Irgendwann also Ende der 1990-er-Jahre stürzte irgendwo ein Passagierflugzeug ab. Ein einziger Insasse überlebte das Unglück. Damals arbeitete ich als Journalistin in San Francisco. Unser Team bestand aus sechs Mitarbeitern, allesamt Vielflieger. Einer von ihnen kommentierte den Absturz wie folgt: „Wenn einer von uns auf seinem nächsten Flug absolut sicher sein will, dass das Flugzeug nicht abstürzt, dann sollte er dafür sorgen, dass er (der einzige Überlebende) mit an Bord der Maschine ist, denn zweimal wird garantiert niemand von einem solchen Unglück betroffen sein.“ Bemüht man die Wahrscheinlichkeitsrechnung und legt zugrunde, dass Flugzeugabstürze überaus selten sind, dann kann man diesem Kommentar nur zustimmen. Fragt man sich jedoch, warum gerade dieser Mann das Unglück überlebt hat, beginnt eine ganze Reihe an Spekulationen über Glück und Pech.

Nennen wir den Überlebenden der Einfachheit halber Herrn Miller. Nehmen wir an, dass er 35 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Kinder ist. Sein Körper ist durchtrainiert und er ist lebendig wie ein Fisch im Wasser. Erst einmal würden wir ihn als Glückspilz bezeichnen, denn er hat bekanntlich den Absturz als einziger überlebt. Im Grunde genommen ist er aber – neutral betrachtet – ein Unglücksrabe, denn er war an einem Ereignis beteiligt, das so selten stattfindet wie eine totale Sonnenfinsternis über Berlin.

Die Brisanz erfährt diese Geschichte dadurch, dass zwei Begebenheiten nahezu parallel stattfanden: der Absturz und das Überleben. Wäre Herr Miller – ohne Zwischenfall – wie gewöhnlich von New York nach London geflogen, dann hätte kein Hahn danach gekräht. Wäre er abgestürzt und tödlich verunglückt, dann hätte ihn das Schicksal ereilt. Das Besondere jedoch sind Pech und Glück innerhalb einer Situation, in eben dieser Reihenfolge. Das Überleben wurde erst dann zum Glück, als das Pech bereits eingetreten war. Fast klingt es logisch, aber eben nur fast, denn niemand ist ernsthaft darauf erpicht, mit einem Flugzeug abzustürzen, nur um zu überleben. Das Glück folgte dem Pech und dieses erfuhr so eine Relativierung.

Glück und Pech werden eng vom Zufall bestimmt. Tritt eine Häufung des einen oder anderen ein, so sprechen wir von einer Glücks- oder Pechsträhne. Herr Miller hatte das Glück, gesund zu sein, was seine Chance zu überleben sicherlich begünstigt hat. Wäre er (zufällig) krank gewesen, hätte es schlimmer ausgehen können. Um seine beiden kleinen Töchter aufwachsen zu sehen, hätte er alles getan. Ein alleinstehender Passagier, der an Depressionen leidet, wäre vielleicht noch vor dem Absturz im Meer des Selbstmitleids ertrunken. Das eine bedingt das andere, und bisweilen erweist sich das Pech als Glück oder auch umgekehrt.

Wenn ich morgens ins Büro fahre, muss ich ein Dutzend Ampeln überqueren, die allesamt nicht in Reihe geschaltet sind. Wenn ich Glück habe, zeigen alle Lichter grün, bin ich vom Pech verfolgt, muss ich an jeder Kreuzung aufs Bremspedal treten. Bemerkenswert ist jedoch, dass meist dann, wenn ich es eilig habe, die Rotphasen gehäuft auftreten. Habe ich hingegen alle Zeit der Welt, gelingt es mir nicht einmal, mein Frühstücksbrötchen zu Ende zu essen.

Würde man nun hingehen und an sämtlichen Tagen, an denen ich meine Strecke fahre, ein Protokoll führen, dann wäre die Rot-/Grün-Bilanz sicherlich relativ ausgeglichen, bedenkt man dabei, dass ich auf einer Bundesstraße fahre, deren Grünphasen partout länger andauern, als die der Straßen, die in sie münden. Dennoch fühle ich es anders. Und ebenda liegt die Crux. Ich werte die Situationen, die mich zur Verzweiflung bringen, höher als die, innerhalb derer scheinbar alles ganz normal verläuft. Mitunter erwarte ich sogar, keine Grünphase zu erwischen, damit ich mich über die fehlende ‚Grüne Welle‘ aufregen kann.

Ein ganz normaler Morgen. Gleich nach dem Aufwachen taste ich nach der Wasserflasche, die neben meinem Bett steht, um einen Schluck zu trinken. Schon am Gewicht der Flasche erkenne ich, dass sie leer ist. Ich laufe also – nicht ohne Groll – hinunter in die Speisekammer, um eine neue zu holen. Nach dem Zähneputzen begebe ich mich in die Dusche und drehe das Wasser auf. Als ich bereits plitschnass bin, stelle ich fest, dass die Putzfrau zum x-ten Mal vergessen hat, das Seifenstückchen, das bereits so dünn ist wie ein Streifen Kaugummi, gegen ein neues auszutauschen. Erzürnt drehe ich die kleine Scheibe zwanzigmal in meiner Hand, um wenigstens ein bisschen Schaum zu erzeugen. Auf dem Weg zur Garage – es regnet – will ich noch schnell die Zeitung aus der Röhre holen, die sich unterhalb unseres Briefkastens befindet. Dummerweise steckt sie nur halb darin, so dass die andere Hälfte völlig durchnässt ist. „Wie blöd muss man sein!“ fluche ich und belasse die Neuigkeiten dort wo sie sind. Auf dem Weg ins Büro mag dann noch die Rot-Welle hinzukommen. Das ist aber völlig egal, denn ich habe bereits schlechte Laune.

Es gibt auch gute, wunderschöne Tage. Und wenn ich mir all das Schöne, das mir widerfährt, vor Augen führe, dann sind die leere Wasserflasche, das mickrige Stück Seife und die durchnässte Tageszeitung eigentlich Petitessen. Weil aber diese Ereignisse in der geschilderten Häufung auftreten, vermögen sie es, mich derart zu beeinflussen, dass sie meinen gesamten Tagesablauf in eine schlechte Stimmung tauchen.

Hätte ich nach dem Aufwachen keinen Durst verspürt, das neue Duschgel ausprobiert und die Nachrichten im Autoradio gehört, dann wäre mein Tagesbeginn ganz gewiss anders verlaufen. Und wenn Herr Miller – hundertmal fluchend – sein Taxi zum Flughafen verpasst hätte, dann wäre auch ihm, dem vermeintlichen Glückspilz, so manches erspart geblieben.

 

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