Frauengespräche

Überraschungen

Kurzgeschichte

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Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass ich mich noch einmal verlieben würde. Nachdem meine Liaison mit Jakob auf eine sehr unrühmliche Weise in die Brüche gegangen war, hatte ich mir geschworen, erst einmal die Finger von den Männern zu lassen. Und ich hielt mein Wort.

Die Beziehung mit Jakob hatte vier Jahre angedauert. Wir lebten in einer schönen Wohnung, waren beide berufstätig und so ging das Leben seinen Gang. Ich will nicht behaupten, dass unser Zusammenleben langweilig war, – doch von einer besonders aufregenden Zeit kann ich auch nicht berichten. Es hatte sich halt alles so ergeben: Jakob war hübsch, seinen Job meisterte er mit Bravour und an Geld mangelte es uns auch nicht. Und so kamen wir zusammen. Was mich allerdings bereits damals verwunderte, war die Tatsache, dass er schüchtern war wie ein Klosterschüler. Ich nahm es gelassen hin, immerhin – so dachte ich – kommen mir so keine anderen Frauen in die Quere. Kurz vor Ende unserer Beziehung geschah etwas Sonderbares. Wir hatten den Abend auf einer Party verbracht. Jakob hatte weit mehr getrunken, als ihm guttat und bestand darauf, einen seiner Freunde zum Taxi zu begleiten. Gemeinsam torkelten die beiden auf die Straße. Um sicherzugehen, dass sie auch dort ankommen, schaute ich durch ein Flurfenster hinaus. Plötzlich stockte mit der Atem: Ich beobachtete Jakob dabei, wie er seinen Freund leidenschaftlich küsste!

Ein paar Wochen später verließ er unsere Wohnung, ohne dass ich ihm wegen seiner Neigung einen Vorwurf machte. Nur eines lastete ich ihm an: Er hätte von Anfang an ehrlich zu mir sein sollen.

Die darauffolgenden zwei Jahre lebte ich allein, und ich genoss diese Zeit in vollen Zügen. Ich änderte meine starren Gewohnheiten, und als ich so langsam wieder bereit war, mich auf einen Mann einzulassen, war eigentlich alles wieder so wie früher.

An meinem 30sten Geburtstag traf ich mich mit ein paar Freunden, um ausgiebig zu feiern. Wir aßen Tapas beim Spanier und ließen es uns gutgehen. Zu vorgerückter Stunde betraten drei Männer das Lokal und setzten sich an einen freien Tisch gleich neben uns. Das Trio war offenbar geschäftlich unterwegs, jedenfalls sprachen sie die ganze Zeit über irgendwelche Zahlen.

Eine Woche später schlenderte ich über den Wochenmarkt unseres Städtchens, um ein paar Einkäufe zu tätigen. Ich kaufte allerlei Gemüse, aß am Suppenstand eine Kleinigkeit und begab mich schließlich in ein Café, um einen Cappuccino zu trinken. Noch bevor ich das Lokal erreicht hatte, sprach mich ein Mann an: „Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?“ fragte er höflich. „Auf einen Cappuccino willige ich ein“, entgegnete ich ihm, „doch was verschafft mir die Ehre?“ „Wir haben uns schon einmal gesehen“, erwiderte er, „vor ein paar Tagen beim Spanier. Sie sind mir in Erinnerung geblieben.“ Ob diese Erinnerung nun positiv zu werten war, blieb erst einmal offen. Claus, so hieß der Gönner, war Mitte dreißig und von großer Statur. Schön anzusehen war er nicht gerade. Sein Gesicht war kantig und erinnerte mich ein wenig an Arnold Schwarzenegger. Seine Stimme hingegen faszinierte mich. Sie klang derart sanft, dass ich nicht aufhören konnte, ihm zuzuhören.

Das erste Date. Claus hatte es arrangiert. Eine Überraschung sollte es sein. Mit dem Taxi fuhren wir gemeinsam aus der Stadt hinaus, bis wir einen kleinen Ort erreichten, den ich nicht kannte. Vor einem Restaurant stiegen wir aus. Auf dem Emailleschild über der Eingangstüre stand in goldenen Lettern ‚Il Cieco‘ geschrieben, was auch immer das bedeuten mochte. „Es scheint geschlossen zu sein“, merkte ich an, „die Fenster sind dunkel.“ „Nein, nein, schau doch, dort brennt ein Licht!“ Mein Begleiter deutete auf eine Tür, hinter der sich tatsächlich etwas bewegte. Wir traten ein. Überschwänglich freundlich begrüßte uns eine ältere Dame mit italienischem Akzent. Nachdem wir unsere Jacken an der Garderobe abgegeben hatten, führte sie uns in eine Art Schleuse, die sie sogleich wieder hinter uns verschloss. Auf einmal war es stockdunkel! „Was hat das zu bedeuten?“ fuhr ich Claus völlig überrascht an. Doch noch bevor er antworten konnte, ergriff ein Fremder meine Hand und beruhigte mich: „Kommen Sie!“ sagte er leise, „ich führe Sie zu Ihrem Tisch.“ So vorsichtig wie es eben möglich war, schlich ich voran, bis die Hand des Fremden mich losließ. In einem Sessel, den ich ertasten konnte, nahm ich Platz. „Wo bist du?“ fragte ich Claus. Ruhig saß er mir gegenüber. Um uns herum ein Stimmengewirr, das mich in Sicherheit wog. Einen Augenblick dachte ich daran, ihm eine Szene zu machen, ihn für verrückt zu erklären und einfach abzuhauen. Doch wie sollte ich das anstellen, ohne dass ich auch nur meine Hand vor Augen sah? Schließlich besann ich mich und ging in die Offensive: „Du hast mich entführt, – wie eine Geisel hast du mich entführt, und nun hältst du mich in diesem dunklen Verließ gefangen. War das dein Plan?“ „Die Flucht steht dir offen“, erwiderte er, „irgendwo hinter dir führt ein Weg nach draußen.“ „Du bist doch nicht ganz bei Trost!“ raunzte ich ihn an. „Wir kennen uns kaum und du schleppst mich, mir nichts, dir nichts, in einen Hinterhalt, aus dem es kein Entrinnen gibt!“ Einen Moment lang war es still. Nur das Klirren der Gläser an den Nebentischen erhellte die Dunkelheit, die mir Angst bereitete. „Wenn du darauf bestehst, führe ich dich hinaus“, sagte er schließlich. Der Kellner funkte dazwischen: „Prosecco?“ fragte er grinsend und goss ein. Ganz langsam führte ich mein Glas zum Mund und beruhigte mich. Nach und nach wurden die Speisen aufgetischt. Eine köstlicher als die nächste. Und wenngleich es vollends ungewohnt war, im Dunkeln zu essen, entdeckte ich doch jeden Happen, den ich verspeiste, von neuem, geradeso als hätte ich ihn niemals zuvor gegessen. Claus rührte sich nicht. Hatte ich ihn enttäuscht oder war er gar beleidigt? Während wir das Dessert löffelten, setzte er an, zu sprechen: „Wenn alles dunkel wäre“, so sagte er, „dann wären wir uns niemals begegnet. Doch nun sitzen wir hier beisammen. Ist das nicht schön? Alles, was wir voneinander wissen, sind unsere Namen. Dein Aussehen spielt hier im Dunkel ebenso wenig eine Rolle wie das meine.“ Er ergriff meine Hand und streichelte sie.

In der Nacht darauf sah ich Monster in meinen Träumen. Zigmal wachte ich auf und ging zur Toilette. Endlich schlief ich ein.

Drei Tage später läutete das Telefon. „Hast du Lust auf einen Ausflug?“ fragte der Anrufer und sogleich willigte ich ein. Doch diesmal – und darauf bestand ich – durfte ich die Bedingungen stellen.

Mehr als fünfzig Kilometer fuhren wir mit dem Auto, bis wir Crange (ein Ortsteil der Stadt Herne) erreichten. Etwas abseits, auf einem holprigen Acker parkten wir das Fahrzeug. Nun ging es zu Fuß weiter. Bereits von weitem erkannten wir die hohen Fahrgeschäfte der Kirmes, die durch die Baumwipfel lugten. „Ich liebe den Rummelplatz!“ sagte Claus, „gebrannte Mandeln, Zuckerwatte und was es sonst noch so alles gibt.“ Nachdem wir eine Weile über den Platz geschlendert waren, sagte ich zu Claus: „Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“ „Alles, was du willst“, lautete die Antwort. „Du schließt jetzt die Augen und öffnest sie erst dann wieder, wenn ich es dir sage.“ Er nickte brav.

Vor uns lag die Achterbahn. Mit Steilkurven und Loopings. Ich freute mich wie ein kleines Kind! Etliche Stufen führten hinauf, vorbei am Kassenhäuschen. Als wir endlich in einem der Wagen Platz genommen hatten und die Sicherheitsbügel geschlossen waren, gab es kein Zurück mehr. „Du kannst die Augen nun wieder öffnen“, sagte ich fröhlich. Claus schaute sich um und erschrak: „Um Gottes Willen! Ich will sofort wieder…“ Das letzte Wort sprach er nicht mehr aus, denn schon heulte die Startsirene. Erst ging es hinauf, fast langsam. Doch als wir das halbe Ruhrgebiet von oben sahen, schoss das Gefährt derart schnell in die Tiefe, dass mir der Atem stockte. Es war, als riss uns der Arm des Teufels in die Hölle! Nach fünf Minuten war alles vorüber. Und obgleich ich am ganzen Leib zitterte, erfüllte mich ein riesiger Stolz. Ganz anders war es Claus ergangen. Er sah ziemlich blass aus und brachte keinen Ton heraus. Erst als ich ihn danach fragte, wie ihm meine Überraschung gefallen hat, sprach er recht gefasst: „Ich hielt einfach die ganze Fahrt über die Augen geschlossen. Auf diese Weise war es zu ertragen.“

Fortan trafen wir uns häufiger. Die Überraschungen behielten wir bei. Einmal entführte er mich mitten in der Nacht in eine verfallene Zeche, um dort verstecken zu spielen. Ein anderes Mal lockte ich ihn in ein Gartenlabyrinth und ließ ihn dort schmoren, bis die Wächter den Feierabend einläuteten. Es war eine schöne Zeit. Und nach und nach kamen wir uns näher. Meine Freunde hatte ich mehr und mehr vernachlässigt, und deshalb beschloss ich eines schönen Tages, sie zu mir einzuladen, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Es war an einem Samstag im August, und es war heiß an diesem Tag. Nachdem wir gegessen hatten, redeten wir über dieses und jenes und schließlich auch über Claus. Die meisten kannten ihn nur flüchtig, hatten sich aber dennoch bereits ein Urteil über ihn gebildet. „Na, ob das der Richtige für dich ist, weiß ich nicht so recht“, sagte Anna, meine Arbeitskollegin. „Weil du kaum noch Zeit für uns hast, mutmaße ich, dass dir mehr an Claus liegt als an uns“, bemerkte Sofie. Ich hatte meine liebe Müh, das Gespräch zu moderieren, wollte ich doch keinen Unfrieden stiften. „Könnt Ihr Euch noch an Jakob erinnern?“ wandte ich deshalb ein. „Er hat mich von Anfang an belogen.“ Alle nickten. „Und nun habe ich jemanden kennengelernt, der es ernst mit mir meint. Er ist zwar nicht der Hübscheste, aber all das, was er tut, überrascht mich jeden Tag aufs Neue. Ich habe ihn richtig liebgewonnen.“ Betretenes Schweigen.

Ende August trat Claus eine Geschäftsreise nach Australien an. Schon Wochen zuvor hatten wir darüber geredet, Wir vermieden aber tunlichst, von einem Abschied zu sprechen. Drei Monate sollte er dort arbeiten. Eine Woche lang ging alles gut. In der zweiten begann ich, ihn zu vermissen. Ich speiste ohne ihn beim Blinden und stellte mir vor, er säße mir gegenüber, nur um seine Nähe zu spüren. Ich lief kreuz und quer über das Gelände der Zeche und versteckte mich, doch niemand wollte mich suchen. Ich verirrte mich im Labyrinth der Sehnsucht, doch nicht einmal die Wächter waren bemüht, sich um mich zu kümmern. Stundenlang telefonierten wir, stunden-, ja tagelang wünschten wir uns herbei. Ernüchterung. Die Tage zogen ins Land.

Im Herbst schlossen die Schranken der Hoffnung. Ich war am Ende. Ich verspürte einen unbändigen Drang, ihn zu umarmen, ihn festzuhalten, ihn zu küssen und was weiß ich. Tausend Stunden beim Blinden hätte ich in aller Demut ertragen, nur um ihn für einen Augenblick wiederzusehen.

Brav löste der Winter den Herbst ab. Der erste Advent stand vor der Tür und mit ihm die Rückkehr meines Geliebten. Am Flughafen zappelte ich wie ein aufgeregter Schmetterling in der Ankunftshalle umher. Erst hundert andere. Erst warten und warten. Wie der letzte Koffer auf dem Band trieb es ihn endlich in meine Arme! „Ich bin verliebt wie ein Schulmädchen!“ flüsterte ich ihm ins Ohr. „Überraschung!“ konterte er: „Schließ‘ einfach mal für zwei, drei Stunden die Augen.“

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