Gesundheit

Wenn die Lust am Leben versiegt

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„Vor gut zwei Jahren hat alles angefangen“, berichtet Elfie, die ich an einem trüben Novembermorgen zu einem Therapeuten begleite. „Erst machte sich in mir eine gewisse Antriebslosigkeit breit, dann begann ich an vielen Dingen zu zweifeln, und nun schwelge ich irgendwo im Nichts umher.“

Wir sitzen zu dritt an einem runden Tisch, der weiß ist und trinken Tee. „Warum hast Du Dich damit einverstanden erklärt, dass ich Dich begleite?“ frage ich die 38-jährige, die sichtlich nervös ist. Lange überlegt sie nicht: „Vielleicht erfahren andere dadurch von meinem Schicksal, und vielleicht kann ich denen ein wenig helfen.“

Walter B., der Therapeut, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Depressionen und hat zugestimmt, dass ich das Gespräch verfolgen darf. Nach einer ganzen Weile legt er drei Karten in die Mitte des Tisches. Wie Spielkarten muten sie an, nicht aber wie solche, die wir gewöhnlich beim Kartenspielen in unseren Händen halten. „Welche der drei Karten gefällt Ihnen am besten?“ fragt der Experte, nachdem Elfie sie genauestens betrachtet hat. „Die dritte“, lautet die Antwort. „Und welche sagt Ihnen so gar nicht zu?“ „Diese da – die erste.“

„Lassen sich durch einen solchen Test Rückschlüsse ziehen?“ will ich wissen. „Nur sehr, sehr vage“, erklärt Walter B., „um tiefgreifendere Erkenntnisse zu erlangen, bedarf es einer langen Periode an Gesprächen, die unter gewissen Umständen zielführend sein können.“ „Es gibt also keine Garantie für einen erfolgreichen Ausgang einer Therapie?“ wende ich ein. „Nein, die gibt es nicht. Doch nun möchte ich Sie bitten, den Raum zu verlassen.“

Geschlagene zwei Stunden sitze ich wartend im Vorzimmer und lese in einem Buch, das mir ins Auge gefallen ist: „Mein schwarzer Hund“ von Matthew Johnstone: „Abgesehen von Tod und Steuern gibt es noch eine dritte Gewissheit im Leben: Jeder ist irgendwann einmal deprimiert. Bei den meisten vergeht die deprimierte Stimmung bald wieder, man hatte dann den „Blues“ oder eine normale „depressive Verstimmung“. Eine von vier Frauen und einer von sechs Männern geraten jedoch im Lauf ihres Lebens in eine Phase klinischer Depression. Hier ist der Zustand der deprimierten Stimmung heftiger und hartnäckiger – und kann Wochen, ja sogar Jahre dauern. Die klinische Depression wurde von der Weltgesundheitsorganisation WHO jüngst als die „Krankheit des Jahrhunderts“ eingestuft, weitaus schlimmer als beispielsweise Herzerkrankungen, nicht zuletzt, weil sie ernste soziale und ökonomische Konsequenzen nach sich zieht. Das bislang gängige Modell der Depression ging davon aus, dass es nur einen Typus gäbe, der lediglich nach dem Grad der Schwere variieren würde. Heute gibt es jedoch eine innovativere Betrachtungsweise: Sie besagt, dass es mannigfaltige Typen gibt, mit variierenden Ursachen und mit unterschiedlicher Bereitschaft, auf Behandlungen anzusprechen. Das Buch „Mein schwarzer Hund“ erfasst die Kennzeichen der eher „endogenen“ depressiven Störung – unter anderem die Unfähigkeit, sich aufheitern zu lassen, und die mangelnde Freude an jeglicher Betätigung. Im schlimmsten Fall ist es den Betroffenen unmöglich, sich zu konzentrieren oder auch nur aus dem Bett zu steigen, um ein Bad zu nehmen. Manche berichten davon, dass sie keine Farben mehr sehen können und dass alles wahrhaftig dunkel und schwarz ist.“

Beim Umblättern erleben ich eine Überraschung: Anstelle der von mir erwarteten, weiteren textlichen Ausführungen zum Thema prangern fast drei Dutzend originelle Illustrationen von Matthew Johnstone auf den folgenden Seiten. Als Leitmotiv fungiert der „Schwarze Hund“, der mit seiner dunklen Färbung das Unheil symbolisiert.

Es sind Alltagssituationen aus dem Leben eines von Depressionen geschundenen Mannes – es könnte aber durchaus auch eine Frau sein –, die uns vor Augen führen, durch welche Schwierigkeiten, mit welchen Gefühlen und mit welchen Ängsten die Betroffenen bisweilen in die Ausweglosigkeit getrieben werden. Eine der Zeichnungen zeigt den besagten Mann, der sich mit allen Vieren auf dem Boden stützt, das Gesicht nach unten geneigt. Der Schwarze Hund steht derweil wie eine Silhouette aufrecht in ihm. Einzig der Kopf des Mannes ist noch unberührt. Die Bildunterschrift lautet: „Irgendwann hatte es der Schwarze Hund geschafft, mein Leben voll und ganz zu beherrschen. Er zwang mit in die Knie. Mein Lebenswille hatte mich verlassen.“ Mehr will ich aber nicht verraten.

Das Buch mit dem Untertitel „Wie ich meine Depressionen an die Leine legte“, zielt auf vortreffliche Art und Weise darauf ab, Selbsterlebtes zu reflektieren, um nach der Lektüre zur einzig wahren Erkenntnis zu gelangen: Ohne fremde Hilfe geht es nicht!

Eines noch will ich Ihnen nicht vorenthalten: Der Autor des Buches, Matthew Johnstone, litt selbst jahrelang an Depressionen. „Sich nicht alleine damit zu fühlen, sich mitteilen zu können, Verständnis zu entwickeln, miteinander darüber ins Gespräch zu kommen – und nie die Hoffnung zu verlieren“ ist seine Botschaft, die allen Betroffenen Mut machen soll. Erhältlich ist das kleine Meisterwerk in jeder Buchhandlung.

Es ist bereits Mittag, als sich die Tür öffnet. Elfie lächelt mich an. Gemeinsam gehen wir ein Stückweit des Weges bis zu ihrem Auto. „Weißt Du“, sagt sie schließlich, „ich habe auf einmal ein wenig Lebensmut geschöpft.“ Und dann schlägt sie mit ihrer Faust auf die Motorhaube ihres Wagens, geradeso, als wolle sie ein unüberhörbares Zeichen setzen. Und plötzlich, ganz plötzlich, lugt die Sonne für einen Augenblick durch die grauen Wolken eines aufregenden Novembertages.

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