Frauengespräche

Das talentierte Talent

Was kann ich wirklich?

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Als ich zehn Jahre alt war, gleich nach dem Besuch der Grundschule, fanden an unserem Gymnasium alljährlich die Bundesjugendspiele statt.

Ein sportlicher Wettkampf, bei dem jede und jeder sich beweisen musste. 50-Meter-Lauf, Weitsprung und Langlauf waren nur einige der Disziplinen, die auf dem Plan standen. Am Ende erhielten die allerbesten eine Ehrenurkunde, die nicht ganz so erfolgreichen eine in Silber, und die Looser gingen leer aus. Wie das eben so ist im Leben. Bezeichnend war jedoch, dass diejenigen, die schließlich ganz oben auf dem Treppchen standen, keineswegs Allrounder waren, also solche, die jede Disziplin mit Bestnoten bestanden –, denn jene gab es nicht. Vielmehr trumpften die Winner meist zweimal groß auf und sicherten sich so die begehrte Auszeichnung. Dass sie in allen anderen Wettkampfarten nur im Mittelfeld landeten, kompensierten sie ganz einfach durch die besagten Spitzenergebnisse in ihren Lieblingsdisziplinen.

Das Werfen des Schlagballes lag mir, dem recht zierlich gebauten Persönchen, überhaupt nicht. Swenja hingegen, meine Mitschülerin, schleuderte das Lederknäuel fast über das gesamte Spielfeld. Und obgleich ihr beim Langlauf stets die Puste ausging, heimste sie sich Jahr um Jahr eine Ehrenurkunde ein. Bereits damals zweifelte ich am Sinn dieser Veranstaltung, die sämtliche Fähigkeiten des einzelnen rigoros über einen Kamm scherte. ‚Warum soll ich den Schlagball werfen?‘ fragte ich mich resigniert, wenn Swenja doch ohnehin die Bessere ist und ich nicht den Hauch einer Chance gegen sie habe?

Bereits im Alten Rom standen sportliche Wettkämpfe auf der Tagesordnung. Im ehrwürdigen Kolosseum duellierten sich die Gladiatoren bis aufs Blut. Doch damals ging es nicht um das universelle Talent, das an meiner Schule – zu meinem Leidwesen beim Schlagballwerfen – eher einer Quälerei gleich –, nein, ganz spezielle Fähig- und Fertigkeiten standen im Fokus. Swenja hätte es also mit einer ebenso versierten Werferin aufnehmen müssen. Mit mir jedenfalls nicht. Und dann hätte sie’s mir auch erspart, mich derart zu erniedrigen wie sie es bei unserem ersten Aufeinandertreffen getan hat.

Jeder von uns verfügt über angeborene Talente, die uns sozusagen in die Wiege gelegt worden sind, ohne dass wir darauf einen Einfluss nehmen konnten. Als Beispiele seien eine Begabung beim Erlernen von Fremdsprachen, die Fähigkeit, gut organisieren zu können oder ein besonders gutes Gedächtnis angeführt. Natürlich lässt sich diese Reihe beliebig erweitern, wichtig ist es, zu wissen, dass der Begriff Talent einzig die Neigung beschreibt, etwas besser zu können als andere, ausgehend vom Nullpunkt, der Geburt. Welchen Vorteil der einzelne in der Folgezeit aus seinen Talenten erlangt, steht auf einem anderen Blatt. Später werde ich noch auf diesen Aspekt eingehen.

Meine Mitschülerin Swenja war eine geborene Schlagballwerferin. Ihr Körper war so gebaut, dass ihr diese Sportdisziplin wie auf den Leib geschneidert war. Betrachten wir nun einmal die Voraussetzungen, die für einen optimalen Wurf vonnöten sind: Schnellkraft, eine perfekte Koordination beim Bewegungsablauf und natürlich die Kraft an sich. Gar keine Rolle spielt die Kondition. Übertragen wir nun Swenjas spezielle Begabung auf andere, wesentlichere Bereiche, so lässt sich eine Art Formel aufstellen, die ihr Talent klassifiziert: Swenja vermag es, spontan zu agieren. Auf den Punkt ist sie fit und nutzt diese Fähigkeit schnell. Diese Erkenntnis allein genügt meist, um die Weichen für das spätere (berufliche) Leben zu stellen.

Zwei andere Beispiele: Mein Neffe Nelson zeichnet für sein Leben gerne. Bereits mit sechs Jahren trug er stets einen Skizzenblock bei sich und hielt alles, was ihm in die Quere kam, im Bild fest. Niemand hat ihn dazu veranlasst oder gar dorthin getrieben. Das Zeichnen ist schlichtweg seine Passion, sein Talent. Lukas, der Sohn einer Freundin, hat in eben diesem Alter damit begonnen, sämtliche elektrischen Geräte, die er im Haus seiner Eltern vorfand, auseinanderzuschrauben, um zu sehen, was sich im Inneren befindet. Auch ihn hat niemand dazu aufgefordert – im Gegenteil – seine Eltern mussten ihn in die Schranken weisen.

Sowohl Swenja als auch Nelson und Lukas folgten einem Trieb. Und wenngleich er bei meiner alten Schulfreundin erst durch die Bundesjugendspiele geweckt wurde (weil sie dort erst erkannte, dass sie die allerbeste Schlagballwerferin ist), lassen sich alle drei Beispiele dennoch zu einem großen Ganzen zusammenfassen: Die genetische Vorgabe führte die drei in eine Richtung, auf die sie selbst kaum einen Einfluss nehmen konnten. Heute ist Nelson ein gefragter Illustrator und Lukas arbeitet als erfolgreicher Informatiker. Nur Swenja hat ihren Weg noch nicht so recht gefunden.

Derjenige, der sein Leben und seinen beruflichen Werdegang nach seinen Talenten ausrichtet, ist ein wahrer Glückspilz. Das, was ihm liegt, kann er von Vornherein b
esser als viele seiner Mitstreiter. Und deshalb prescht er auch in seiner Entwicklung stets voran, weil die anderen erst einmal an das heranreichen müssen, was bei ihm sozusagen im Blut schwimmt. Dieser Erfolg, besser zu sein als andere, treibt ihn in eine Komfortzone, in der er sich zufrieden aalt. Ebenso wie Swenja es damals tat. Ist nun derjenige, der sein Talent entdeckt hat, auch noch hochmotiviert, dann stehen ihm alle Türen offen.

Talente müssen erkannt werden. Möglichst früh. Wenn erst die Mühlen der Arbeitswelt ihr grobes Korn mahlen, um die Neigungen des einzelnen zu sondieren, ist es fast immer zu spät. Dann steht das pragmatische Denken und Handeln auf der Tagesordnung. Bedarfsfälle werden geradezu konstruiert, und so landet das unentdeckte Talent eines begnadeten Schriftstellers nicht selten in der Lehrerschaft einer Grundschule. Doch wie lässt sich ein Talent entdecken?

Ausgehend von der unumstößlichen Tatsache, dass jeder Mensch zumindest ein, zwei Fähigkeiten beherrscht, die ihn von Geburt an auszeichnen, gilt es einzig, diese Neigungen möglichst bereits im Kindesalter aufzudecken. Nicht das Spezielle ist dabei von Belang, es ist das Übergeordnete, das ganz Allgemeine. Thematisieren wir als Beispiel den Ordnungssinn. Meine Tochter Elisabeth ist eine kleine Chaotin. In ihrem Zimmer liegt alles kreuz und quer herum, und nicht selten trete ich dort im Dunkeln barfuß in einen Legostein. Im Haus nebenan hingegen ist alles akkurat arrangiert: Die kleine Wiebke hält ihr Reich sorgsam in Ordnung. Elisabeth ist eine Freidenkerin. In poetischen Anklängen formuliert sie fantasievolle Texte, die mich erstaunen lassen. Die Nachbarstochter hat damit nichts am Hut. Und so unterscheiden sich die Beiden fast grundsätzlich.

Ist eine Neigung offensichtlich, so sollte sie tunlichst Unterstützung erfahren. Elisabeths Talent, sich frei und wortreich auszudrücken zu können, reichern wir durch das Vorspielen von Hörbüchern, durch Besuche im Kindertheater, privaten Englischunterricht und das Vorlesen an. Die Begeisterung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Möglichst bereits im Kindesalter Talente zu entdecken, zu erkennen und zu fördern, stellt den idealen Weg innerhalb des Sondierungsprozesses dar. Wer sich früh über die Neigungen des Sprösslings im Klaren ist, der kann ganz gezielt vorgehen und erspart dem Kind damit das in unserer Gesellschaft universell geprägte Gleichheitsdenken in Bezug auf die Bildung im Allgemeinen. Seien wir ehrlich: Ein Schüler, der seine Eltern mit lauter Einsen auf dem Zeugnis überrascht, ist doch nach wie vor ein Musterschüler, auf den alle mächtig stolz sind. Doch was nützt dem Heranwachsenden all sein Wissen, wenn er später, wenn es darauf ankommt, kein Kapital daraus schlagen kann? Jemand der alles – den schulischen Anforderungen entsprechend – beherrscht, setzt keine Spitzen. Aber eben diese Spitzen zeichnen einen Menschen aus.

Noch einmal zum besseren Verständnis: Ausgehend von zirka einem Dutzend Fähigkeiten, die ausschlaggebend dafür sind, was ein Mensch zu leisten vermag und was nicht, ist jeder von uns recht unterschiedlich. Der eine ist ein geborener Analytiker, weil sein Innerstes ihn antreibt, allem auf den Grund zu gehen; der andere interessiert sich vornehmlich fürs Kreative. Wieder ein anderer kann gut zuhören; sein Gegenüber erzählt lieber spannende Geschichten. Würde man nun ein Diagramm erstellen, auf dem die sogenannten Spitzen des einzelnen einen Ausschlag erzeugten (die Neigungen mit einem Impuls nach oben und die Aversionen entsprechend nach unten), dann entstünde ein Profil, das deutlich macht, wo die Schwerpunkte liegen. Ginge man nun noch einen Schritt weiter und würde die so entstandenen Profile auswerten, dann wäre das Ergebnis – unterm Strich – fast immer gleichwertig, denn die Ausschläge nach oben, die ein besonders Talent offenbaren, würden durch Desinteresse oder ein Unvermögen in anderen Bereichen egalisiert.

Das deutsche Schulsystem ist der Gradmesser für die Beurteilung der Neigungen unserer Kinder. Doch alles, aber auch alles wird über einen Kamm geschert. Talente entfalten allenfalls in den Leistungskursen ihre Wirkung, weil die Schüler dort (erstmals) frei wählen können. So manch ein Genie geht einfach unter, da die Note ‚eins‘ nicht zu überbieten ist und deshalb die Spitzen gekappt sind. Ein profunder Vergleich untereinander ist so unmöglich.

Im Verlauf unserer Schullaufbahn haben wir alle gelernt, was es mit dem Logarithmus auf sich hat. Stundenlang haben wir uns gequält, weil ‚er‘ auf dem Lehrplan stand. Fragt man heute einen Schulabgänger, einen Studierenden (außer denen der Mathematik) oder gar die Eltern, was es damit auf sich hat, so schütteln fast alle den Kopf. Ergo: Das Vermitteln dieser Rechenart ist auf breiter Ebene gefloppt. Hätte man von Anfang an die Spreu vom Weizen getrennt und sich einzig auf die Schüler konzentriert, die eine hohe Affinität zur mathematischen Materie aufweisen und somit diesbezüglich über ein Talent verfügen, dann wäre die Vermittlung dieses Lernstoffes effizienter verlaufen. Auf die bestehende Art und Weise wurde lediglich erreicht, dass diejenigen, die den Logarithmus ohnehin im Laufe der Zeit erlernt hätten, mit ihm ganz offiziell konfrontiert wurden. Für jene, die ihn schon nach ein paar Wochen wieder aus dem Gedächtnis verloren haben, war das Prozedere im Grunde wertlos.

Das Erkennen von Talenten im Kindesalter wird in Deutschland nach wie vor recht stiefmütterlich behandelt. Zumindest besteht seitens der staatlichen Stellen, ganz anders als in einigen anderen Staaten der Welt, kaum ein Interesse daran, möglichst frühzeitig eine Selektion zu vollziehen. Über die Gründe mag spekuliert werden. Bezieht man jedoch den Aspekt ‚Jeder kann etwas ganz besonders gut‘ in die Überlegung mit ein, dann ändert sich die Situation schlagartig. Denn dann steht plötzlich jeder einzelne im Mittelpunkt. Einziges Manko: Die meisten Talente bleiben unentdeckt. Zum Leidwesen der Betroffenen, die ihren Nine-to-Five-Arbeitstag absitzen und nichts mehr herbeisehnen als den schrillen Ton der Feierabendglocke, die dem monotonen Arbeitsalltag ein Ende bereitet.

Im noblen Londoner Vorort Mortlake ist ein Unternehmen ansässig, das sich damit beschäftigt, Talente zu sichten. Meist sind es angehende Manager, ausgesandt von Firmen aus der ganzen Welt, die dort zeigen sollen, was sie können. Ziel ist es, herauszufinden, welche Neigungen in ihnen schlummern, natürlich mit dem Hintergedanken, zu eruieren, ob der Proband tatsächlich zu Höherem berufen ist. Wer nun erwartet, dass die Prüfung aus einem ausgefeilten Frage- und Antwortkomplex ihre Schlüsse zieht, der liegt völlig falsch. Im Blickpunkt liegt nämlich so ziemlich alles, was nichts mit dem erlernten Wissen zu tun hat, sondern mit den angeborenen Talenten. Aber auch diese werden nicht isoliert betrachtet, da gerade im Management das Zusammenspiel der Kräfte eine bedeutende Funktion einnimmt. Ein Probandenteam besteht deshalb aus vier oder fünf Personen, willkürlich zusammengesetzt. Niemand kennt den anderen.

In einer großen Halle ist ein Parcours aufgebaut. Spontan erinnert er an einen Abenteuerspielplatz. In seiner Mitte sitzt eine Handvoll Juroren, die sich das, was nun folgen wird, prüfend anschaut. Gleich die erste zu bewältigende Aufgabe hat es in sich: Es gilt, eine etwa zwei Meter hohe Barriere zu überwinden. Hilfsmittel sind nicht zugelassen. Nur die pure Kraft und die Taktik entscheiden über das Gelingen oder den Misserfolg. Zum Bedauern der athletisch gebauten Probanden, die die Wand ganz allein ohne große Mühe erklimmen und überwinden könnten, befinden sich im Team auch zwei etwas korpulente Personen, denen dies nicht ohne weiteres möglich ist. Und nun beginnt ein Wechselspiel: Lagebesprechung. Wer soll zuerst hinauf und wer als letzter? Vor allem aber: Wie stellen wir es an? Bereits innerhalb dieser ersten Phase wird erkennbar, wer das Ruder an sich reißt und den Ton angibt und wer sich eher abwartend im Hintergrund bewegt. Die Uhr tickt, denn auch die Zeit wird gemessen. Ein erster Versuch schlägt fehl, weil sich einer der Männer hoch oben nicht richtig festhalten kann. Beim zweiten Mal klappt‘s besser. Drei Prüflinge haben das Hindernis bereits überwunden. Nun geht’s ums Ganze! Mit sichtbarer Leichtigkeit hievt sich einer der beiden Athleten in die Höhe und landet sicher auf der anderen Seite. Der zweite folgt ihm ebenso mühelos. Test Nummer eins bestanden. Die Juroren schreiben ihre Notizen. Doch was sie dort notieren, ist nun auf jeden einzelnen der Gruppe gemünzt. Wer hat sich wie verhalten? Und wer hat die Dynamik innerhalb des Teams derart vorangetrieben, dass das Unterfangen letztendlich zum Ziel führte?

Wenn Sie selbst herausfinden möchten, über welche Talente Sie verfügen, dann empfehle ich Ihnen, ganz ähnlich vorzugehen, wie in diesem letzten Beispiel dargestellt. Zu erkennen, was Sie besonders gut können, ist kein Hexenwerk! Der Möglichkeiten bieten sich viele. Wenn Sie sich selbst in einen Vergleich mit anderen stellen, dann werden Ihnen ein ums andere Mal die Augen geöffnet. „Was können Sie besser als andere?“ lautet die Kernfrage. Was liegt Ihnen besonders und was bewerkstelligen Sie mit links? Was bereitet Ihnen Freude, wenn es darum geht, eine Arbeit zu verrichten? All diese Punkte beleuchten Ihre Talente. Doch verrennen Sie sich nicht in Details! Stehen Sie am Anfang Ihres Berufslebens, dann ist es ratsam, eine Art Talent-Tagebuch zu führen. Dort notieren Sie sämtliche Vorkommnisse in Bezug auf all das, was Sie in diesem Artikel gelesen haben. Sehr hilfreich ist auch eine Stärken-/Schwächenanalyse. Teilen Sie ein DIN A4-Blatt im Hochformat durch ein großes T. Links auf der Seite führen Sie all das an, was Sie gar nicht können. Rechts daneben schreiben Sie das, was Ihnen ganz besonders liegt. Auf diese Weise entsteht ein ganz eigenes Profil von Ihnen selbst. Es geht nicht um Ihr Talent beim Schlagballwerfen, auch nicht darum, wie schnell Sie Ihr Auto von Null auf Hundert beschleunigen können. Im Fokus stehen ganz allgemeine Fähigkeiten. Am Ende Ihr talentiertes Talent.

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