Frauengespräche

Menschenskinder

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Meine Cousine gebar ihr erstes Kind im Alter von siebzehn Jahren. Der Aufschrei war groß. Wuchs sie doch wohlbehütet in einem Elternhaus auf, das – recht liberal geprägt – keineswegs das Thema ‚Aufklärung‘ tabuisierte. Bisweilen aber schlägt das Leben im Allgemeinen – und jenes, das unsere Fortpflanzung regelt – seine ureigenen Wege ein. Getrieben von Gefühlen und Lust endet dann eines der allerersten amourösen Abenteuer statt auf dem Pfad der Tugend in einer imaginären Sackgasse. Werdende Mütter und Väter sind noch blutjung, meist zu jung, um den Anforderungen, die fortan an sie gestellt werden, gerecht zu werden. Sogleich wirft sich die Frage auf: „Haben wir – als Eltern – die Zeichen der Zeit falsch gedeutet?“

Das Kind wurde auf den Namen Rebecca getauft. Mittlerweile ist sie zehn Jahre alt, gesund und munter. Sie besucht das Gymnasium, weil sie recht gescheit ist und spielt Klavier. Längst haben sich ihre Eltern beruflich etabliert. Tabea, die Mutter, arbeitet in einem Architekturbüro als leitende Angestellte, und Raphael, der Vater, verdient gutes Geld in seinem Job bei der Sparkasse. Alles ist also in bester Ordnung. Nicht ganz. Denn das habe ich damals erfahren: „Wenn unsere Eltern uns nicht tatkräftig unterstützt hätten“, so erzählte mir Tabea nicht nur einmal, „dann wäre Rebecca nicht so wohlbehütet aufgewachsen.“

Statistisch betrachtet zeugen Frau und Mann ihr erstes Kind im Alter von dreißig Jahren. Akademiker haben sich zumeist darauf versteift, nicht vor Ende des zweiten Staatsexamens ihre Kinderwünsche zu erfüllen, die Mittelschicht ist etwas früher dran. Ihnen folgt die breite Masse. Sie treibt die Kennzahlen der Statistik nach unten, ebenso wie meine Cousine.

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, an dem ich mit Rebecca über ihre ungewollte Schwangerschaft geredet hatte. Damals – sie war gerade volljährig – war das Erlebnis noch ganz frisch in ihren Gedanken verankert, so dass ich mir viel davon versprach, mich mit ihr darüber zu unterhalten. Einerseits, um meine angeborene Neugierde zu stillen – zum anderen aber vor allem deshalb, weil ich mir von diesem Gespräch – als Quintessenz – eine Art Leidfaden erhoffte. Einen Leitfaden, der mir später wohlmöglich bei der Erziehung meiner eigenen Tochter gute Dienste erweisen würde.

Natürlich hatte ich mir bereits im Vorfeld unserer Unterredung so meine Gedanken gemacht. Doch aus dem rationalen Blickwinkel eines Erwachsenen betrachtet, stellt sich manch ein Beweggrund ganz anders dar als in den Augen zweier Jugendlicher. Und so war ich dann auch ziemlich verblüfft, als mich Tabea mit der Wahrheit konfrontierte: „Wir sind zu gierig gewesen,“ sagte sie lammfromm und mit leiser Stimme, geradeso als gälte es, eine Schuld einzugestehen.

„Darf ich Dich etwas fragen?“

„Nur zu!“

„Wann ist es Euch beiden bewusst geworden, dass da etwas aus dem Ruder gelaufen war?“

„Als der Schwangerschaftstest positiv ausfiel.“

Am Nachmittag gingen wir spazieren. Mit Vorbedacht vermied ich es, meine Cousine mit Fragen zu kolportieren, konnte ich mir doch leibhaftig vorstellen, wie sehr sie unter diesen Verhören bereits gelitten hatte. Und es war gut so.

„Weißt Du,“ begann sie nach langer Zeit der Stille ihren Monolog: „Es ist nicht ganz einfach, erwachsen zu werden. Da spürst du, wie dein Körper aus seiner kindlichen Schutzhülle schlüpft und sich nach und nach verformt. Du bringst Puppen und Legosteine auf den Dachboden, um von dort oben Ausschau zu halten. Ausschau nach den Jungs, die dir gestern noch an den Haaren gezogen haben, weil sie dich blödfanden. Auf einmal schaust du ihnen hinterher und weißt nicht einmal warum. Eine Zeitlang bist du verzweifelt. Noch einmal blickst du zurück. Doch so sehr du dich auch bemühst, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, weil du an ihr hängst, so sehr wird es dir nicht gelingen.

Plötzlich steht er vor dir. Du hast ihn nicht kommen sehen. Ebenso schüchtern wie du ist er selbst. Unverständliche Worte perlen über deine Lippen. Doch er versteht sie. Die erste Berührung. Der erste Kuss. Auf einmal ist es um dich geschehen!

Mögen die anderen doch denken, was sie wollen! Mögen sie unsere Gefühle verunglimpfen, weil sie sowieso alles besser wissen – die Eltern, die Lehrer und all die Erwachsenen, die immer nur so tun, als ob sie niemals ein Kind gewesen wären. Es sind die mahnenden Phrasen derer, die die Heranwachsenden in ein emotionales Vakuum treiben. In eine Leere, die das Verhältnis zusehends spaltet.

Doch dann geht es erst richtig los! Um uns zu beweisen, dass wir imstande sind, die herkömmliche Lehre der Sitten und mit ihr all die Mahnungen in den Wind zu schlagen, erschaffen wir uns unsere eigene Welt. Eine Welt, die die Zwänge hinter sich lässt. An sich ein ganz normaler Vorgang in diesem Alter, findet doch zu eben dieser Zeit ein gewisser Abnabelungsprozess statt, der es uns ermöglicht, bald darauf auf eigenen Füßen zu stehen. In vollen Zügen genießen wir das neue Leben, das uns eine ungehemmte Freiheit präsentiert. Was dann geschieht, ist nicht so einfach zu beschreiben. Die kleine Revolution, die wir entfacht haben, lässt uns zwar ausufernd jeden Augenblick auskosten, in ihr schlummert aber gleichzeitig ein hohes Maß an Ignoranz den Erwachsenen gegenüber. Man kann sich das in etwa so vorstellen: Wird es einem Kind schlichtweg verboten, auf das Dach der alten Ziegelei zu klettern, weil eine solche Mutprobe in den Augen der Mahner viel zu gefährlich ist, dann verstärkt sich fast automatisch der Reiz, es dennoch zu tun. Erst einmal deshalb, weil es verboten ist und die Erwachsenen partout alles Gefährliche von uns fernzuhalten versuchen. Weitergedacht aber ist eine solche Mutprobe auch eine Art Selbstbestätigung. Wird sie bestanden, dann winkt einem – trotz aller Verbote – eine motivierende Genugtuung. Und dann werden die Zweifel derjenigen, die davon abgeraten haben, von den Jugendlichen schnell unter den Teppich gekehrt. ‚Hat doch prima geklappt!‘ lautet dann das Fazit.

Natürlich hätte auch etwas dazwischenkommen können. Eine Sprosse der ellenlangen Leiter, die morsch war, zum Beispiel. Doch wer denkt im Moment des ersehnten Triumpfes an so etwas? Genauso verhält es sich mit dem Thema Sex. Jeder Heranwachsende weiß, dass die Verhütung das A und O ist. Und wir wussten das auch. Doch beim ersten Mal ist nichts passiert. Beim zweiten auch nicht. Und dann ging es so weiter, wochenlang. Es war die Gier, die uns antrieb, uns zu lieben, als ob es kein Ende gäbe.

Hätte ich meine Mutter gefragt, ob sie es billigen würde, dass mir die Frauenärztin die Anti-Baby-Pille verschreibt, dann wäre es mit dem Vertrauen dahingewesen.“

Dazu muss man wissen, dass Kinder unter achtzehn Jahren nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten einen Gynäkologen aufsuchen dürfen.

Eine halbe Stunde später saßen wir gemeinsam auf einer Parkbank.

„Gibt es eine Erkenntnis, die Du anderen mit auf den Weg geben könntest?“ frage ich Tabea.

„Darüber kann man stundenlang philosophieren. Und das haben wir auch mit unseren Eltern getan. Der Knackpunkt entsteht in der Pubertät. Über die Aufklärung müssen wir nicht sprechen, sie ist sozusagen allgegenwärtig in diesem Alter. Was sich aber total verändert ist in den meisten Fällen das Verhältnis zwischen den pubertierenden Kindern und deren Eltern. Die einen beäugen die Veränderungen liebevoll mit Sorge, weil sie Angst davor haben, die Kontrolle zu verlieren. Andere überspielen sie dadurch, dass sie sie schlichtweg ignorieren. Wieder anderen heben tagtäglich den Zeigefinger, um uns zu warnen. Und dann gibt es noch die, die sich massiv einmischen – das sind die Schlimmsten, sind sie es doch, die uns die halbe Jugend verhageln.

Mein Ratschlag richtet sich an die Eltern. Was hätte ich darum gegeben, wenn mein Vater nur ein einziges Mal mitgekommen wäre zu dieser Ziegelei, die es tatsächlich gibt, um bei diesem Beispiel zu bleiben. Wenn er versucht hätte, mein Verhalten zu verstehen, dann wäre er näher an mich herangekommen, und ich hätte ihm mehr vertraut – gerade in dieser kritischen Phase. So aber verliefen zwei Leben auf unterschiedlichen Spuren, weil der eine ganz anders denkt als der andere.

Abschließend will ich natürlich nicht verschweigen, dass Raphael und ich ziemlich blauäugig gewesen sind. Aber da kommt wieder diese Gier ins Spiel: Mein Gott, wie herrlich war es, mit ihm zu schlafen! Rückblickend sehe ich das Ganze etwas anders. Und wenn ich das Rad der Zeit zurückdrehen könnte, dann wäre es sicher nicht so weit gekommen, sehen mein Freund und ich doch jeden Tag, dass Rebeccas Wohlergehen auch auf die freimütige Hilfe unserer Eltern zurückzuführen ist. Wären wir alleinerziehend gewesen, sähe dies ganz sicher anders aus.“

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